Kerstin Birkeland hat vor neun Jahren ihren Verein «Herzensbilder» gegründet. Sie möchte Familien helfen, die von traurigen Schicksalen heimgesucht wurden und ihnen das schenken, was in schicksalsreichen Zeiten oftmals in Vergessenheit gerät: Ein Familienfoto.

Wie bist du auf die Idee «Herzensbilder» gekommen?
Dass Fotos enorm wichtig sein können, haben wir in unserem Leben schon mehrere Male erleben müssen. Unsere grosse Tochter Malin wurde als Baby plötzlich schwer krank. Die Monate voller Ungewissheit im Spital haben wir nie festgehalten. Wir hatten Glück, dass sie überlebt hat. Aber wir realisierten, dass wir vom Grossteil ihres Lebens keine Fotos gehabt hätten. Nichts. Es ist ein Phänomen, dass man nur in den schönen Momenten daran denkt, Fotos zu machen.
Wie hat sich euer Verhalten verändert?
Wir haben begonnen, alles festzuhalten. Bewusst. Auch als bei unserem Sohn Till ein Hirntumor diagnostiziert wurde. Wir fingen die Momente ein. Von Anfang an. Beim Bestrahlen, auf der Onkologie. Und dann kam die nächste Erkenntnis nachdem Till gestorben ist. Ich wollte eine grosse Leinwand machen lassen unserer Familie. Und da sah ich, was wir in all den Jahren von Tills Krankheit vergessen haben: Ein Familienfoto von uns allen. Ein schönes Foto. Kein Schnappschuss. Wir hatten sehr viele Fotos von Till, von den Kindern, von meinem Mann und den Kindern. Aber das Foto, das man fast nie hat, weil immer jemand das Foto macht, das Foto, das die Familie so abbildet, wie sie in meinem Herzen für immer sein wird, das Foto fehlte. Ich hätte in diesem Moment alles auf dieser Welt gegeben, für dieses eine Bild.
Wie kam es zur Idee für «Herzensbilder»?
Das Leben hat mir immer wieder sehr viel abverlangt. Mein Grundsatzentscheid war aber schon immer klar: Entweder ich verbittere an all dem oder ich versuche etwas aus dem zu machen, was mir und uns passiert ist. Hier also das Erstellen von Familienfotos. Ich möchte Familien helfen, denen in diesem Ausnahmezustand auch nicht bewusst ist, was das Fehlen eines einzigen Bildes bewirken kann. Sie sollen zu diesen Bildern kommen, ohne dass sie sich mit der Suche nach FotografInnen auseinandersetzen müssen. Sie können sich an die Pflegefachfrau wenden und dann läuft es. Es macht mein persönliches Schicksal nicht besser, aber ich kann in ihrem Leben dazu beitragen, dass sie Etwas haben, das ihnen eines Tages alles bedeuten wird.
Wie entstand daraus ein Verein?
Ich habe eine Facebook-Seite erstellt und dachte, es würde Jahre gehen, bis ich Fotografen finden würde. Doch dann ging es sehr schnell. Die Website erstellt, der Verein gegründet, ein Vorstand wurde gewählt. Alles lief zu Beginn auf ehrenamtlicher Basis. Irgendwann wurden wir dann so gross, dass Stellen im Bereich Administration und Organisation geschaffen werden mussten. Denn wenn jemand sieben, acht, neun Stunden pro Woche arbeitet, läuft dies in meinen Augen nicht mehr unter ehrenamtlich.
Welche Herausforderungen begegnen euch als Verein?
Am Schwierigsten ist die Suche nach Spenden. Nach wie vor arbeiten FotografInnen, HaarstylistInnen und Makeup-ArtistInnen ehrenamtlich. Doch wir mussten Stellen in der Administration wie auch in der Einsatzleitung schaffen. Dazu kommen all die Kosten für unser Materiallager, für Versicherungen, für die Accessoires, welche wir für die Fotos verwenden, für Weiterbildungen für unser Team und vieles mehr. Wir brauchen pro Jahr CHF 350'000.--, damit wir auf diesem Niveau bleiben können. Das zermürbt einen.
Ist es nicht auch die Arbeit mit den Familien, die einen zermürben kann?
Das mag man denken. Man muss aber lernen und sich eingestehen, dass man die Leben der Menschen, welchen wir Bilder schenken, nicht verbessern kann. Wir können sie nicht länger begleiten, da wir jeden Tag eine neue Familie haben. Aber wir können ihnen dieses eine Teilchen schenken, bei dem es nur um sie als Familie geht. Das ganze Drama wird in diesem Moment ausgeklammert. Wir geben ihnen ein Licht mit. Innige Familienfotos, die endlos kostbar werden.
Wie habt ihr euch in den letzten Jahren entwickelt?
Wir leben seit neun Jahren von der durchschnittlichen Schweizer Familie, die 50 oder 100 Franken spendet. Wenn man sich mal vorstellt, wie viele Familie uns tragen, bis man auf CHF 350'000.-- pro Jahr kommt. Wir spüren eine unvorstellbare Hochachtung der Familien in das, was wir machen. Ein wahnsinnig schönes Statement. Toll wäre es natürlich, wenn wir irgendwann diesen einen grossen Gönner/Schirmherr finden würden. Wir wären ein grosser Imagegewinn für die Firma. Wir haben einen guten Ruf, die Spitäler sind zufrieden. Doch es ist halt kein «sexy» Thema. Man kann nicht sagen, wir als Firma X sind Hauptsponsor des coolen Openairs für Kinder, das drei Tage Spass verspricht. Es ist ein Tabuthema und das macht es sehr viel schwieriger.
Warum ist es 2021 immer noch ein solches Tabu in der Gesellschaft?
Wir haben es bei unserem Sohn Till direkt erlebt: Manche Menschen sind ab dem Moment der Diagnose aus deinem Leben verschwunden. Du bist für sie wie der Albtraum, der ihnen auch begegnen könnte. Es ist der Super-Gau für eine Familie, wenn die Eltern krank werden, das Kind stirbt oder tot geboren wird. Man möchte sich damit nicht auseinandersetzen. Ein Teil der Gesellschaft schiebt dies alles weit weg, bis das Thema selbst in ihr Leben kommt. Das ist auch okay. Jeder Mensch entscheidet selbst, wie er tickt und was er macht. Und doch ist es ein Thema, das uns alle einholt. Deshalb bringt es nichts, wenn man es verdrängt, denn eines Tages kommt es mit einer solchen Wucht.
Welche Reaktionen auf «Herzensbilder» gibt es?
Manche wollen nicht wissen, was wir machen. Andere schreiben uns hingegen, dass ihnen sehr viel bewusster ist, dass Nichts selbstverständlich ist, seit sie auf unserer Facebook-Seite mitlesen. Oder sie schreiben, dass sie verstanden haben, dass Nichts zu machen das Schlimmste sei. Solche Rückmeldungen zeigen, dass wir mehr machen als Bilder. Wir rütteln am Thema. Wir arbeiten jeden Tag an der Aufhebung dieses Tabus, auch wenn wir nie alle Menschen erreichen werden.
Wie hat sich die Wahrnehmung von stillgeborenen Babys verändert?
Noch vor 50 Jahren hat man diese direkt weggenommen und den Frauen gar nicht erst gezeigt. Man hat gemeint, dass es gut sei, wenn die Mütter das nicht sehen. Wir haben jetzt aber ältere Damen, die uns aus den Pflegeheimen schreiben. Dass sie jeden Tag und jede Nacht daran denken, wie ihr Kind wohl ausgesehen hat. Es ist und bleibt etwas Surreales, weil sie nie damit abschliessen konnten. Die Hebammen wissen schon lange, dass die Bilder wahnsinnig wichtig sind für die Trauerverarbeitung. Denn sie machen das sichtbar, was sonst eben völlig surreal bleibt.
Müsst ihr die Fotos von Sternenbabys rechtfertigen?
Wir möchten Familien noch Fotos schenken, dann, wenn sie alle noch lebend beisammen sind. Doch diesen Moment gibt es bei den stillgeborenen Babys nicht. Sie sind schon verstorben, wenn sie zur Welt kommen. Bei ihnen gibt es keinen anderen Moment für Fotos ausser dem gerade jetzt. Aus diesem Moment ein würdevolles Bild zu machen, ist das, was zählt und das, was unserer Fotografen schaffen. Wir schenken den Familien liebevolle Bilder, die das Geschwisterkind auch in den Kindergarten mitnehmen kann, ohne jemanden zu schocken. Durch die Bilder wird sichtbar, dass es den neugeborenen Menschen gegeben hat. Wenn die Familien die Bilder ihrem Umfeld zeigen, sehen wir immer wieder, dass Etwas passiert, dass sich die Ansichten ändern. Es melden sich Leute, die sagen, sie hätten die Bilder gesehen und können jetzt verstehen, warum sie so wichtig sind. Man muss den Menschen Zeit geben. Es ist ein Thema, das viele lieber ausblenden. Nur bringt dies leider nichts. Irgendwann kommt es.
Vor kurzem erschien der Film «Pieces of a Woman» auf Netflix». Darin wird die Thematik im Detail beleuchtet. Wie findest du das?
Ich finde es enorm wichtig, dass das Thema vorkommt. Wir hören vermehrt, dass es nach wie vor so ist, dass ein grosser Teil des Umfeldes der betroffenen Familien so tut, als sei nichts passiert. Genau dies sei das Schlimmste, wie die Familien uns sagen. Es ist nicht Nichts passiert. Man hat ein Baby verloren. Die Worte, die man sagt, sind dabei gar nicht entscheidend. Es kann ein WhatsApp sein, in dem man schreibt, dass man keine Worte findet. Irgendeine Reaktion ist immer besser als keine. Einsam zu werden in einem Moment, in dem deine Welt zusammenbricht, weil andere finden, es sei schwierig für sie? Für wen ist es in diesem einen Moment schwierig? Für den, der keine Worte findet oder für das Gegenüber, das durch diese Erfahrung geht? Wenn man es so ansieht, ist das eigene Unwohlsein und die Unsicherheit nichts gegen den Schmerz.
Welche Rolle haben die Medien?
Es wird nie alle erreichen, auch wenn immer wieder darüber geschrieben und Berichte im Fernsehen gezeigt werden. Aber wenn man zehn Mal gelesen hat, dass es für Mütter von stillgeborenen Babys das Allerschlimmste ist, wenn man so tut als hätte es das Baby nicht gegeben, verändert dies womöglich Etwas in einem. Wenn man die Erfahrung im Umfeld macht, weiss man dann, wie man sich verhalten soll und darf und wie eben nicht.
In einem Interview sagtest du «entweder sie verschwinden oder sie sind für dich da – zwischendurch gibt es nichts» - wie hat sich deine Einstellung gegenüber Menschen verändert?
Du kannst nicht voraussehen, wer in einer Notsituation da sein wird und wer nicht. Du meinst zwar, dass du es weisst, aber es stimmt nicht in jedem Fall. Bei manchen wird das innere Betriebssystem derart überfordert, dass sie einfach aus deinem Leben verschwinden, obwohl du für sie die Hand ins Feuer gelegt hättest. Und dann gibt es die Menschen, die du weder lange kennst noch oft siehst, die dann da sind – ohne Wenn & Aber. Und dann gibt es die, die da waren vorher und die geblieben sind. Für sie alle werde ich mein Leben lang alles machen, weil ich nie vergessen werde, was sie für mich machten.
Was bedeutet dir Freundschaft?
Für Menschen, die mir etwas bedeuten, habe ich schon immer alles gemacht. Ich ticke so. Aber ich glaube unsere Kinder und auch die Kinder, die auf dem gesamten Weg mit dabei waren, haben schon für ihr junges Alter erlebt, was Freundschaft wirklich bedeutet. Da könnten sich viele Erwachsene zehn Scheiben davon abschneiden. Es immer einfach, in den guten Zeiten Spass zu haben. Aber eine Freundschaft zeigt sich erst dann, wenn bei jemandem etwas passiert, das nicht mehr gut ist. Und du dann auch bereit bist, für diesen Menschen Dinge auszuhalten, die nicht angenehm sind. Man kann dann entweder die eigene Befindlichkeit vorausstellen oder man ist für die Freunde da.
2013 hast du den Publikumspreis von Radio SRF als «Heldin des Alltags» erhalten. Was ist in deinen Augen ein/e Held/in?
Für mich seid ihr FotografInnen, Makeup-ArtistInnen, StylistInnen tagtäglich Helden. Wenn das Herz klopft, man unsicher ist, nicht weiss, was einen erwartet und man danach möglicherweise kaum schlafen kann - und man macht es trotzdem. Für mich ist ein Held nicht jemand, der besonders schnell rennt oder toll Salsa tanzt. Das sind Talente, die man hat und für die man alles gibt. Aber wenn Menschen im normalen Leben Etwas machen, das nicht selbstverständlich ist. Und noch krasser ist es, wenn man Etwas für eine fremde Person macht. Das finde ich noch eine Stufe höher, als wenn ich es für mein direktes Umfeld mache. Für mich gehört man dann zu den HeldInnen, wenn man Etwas wagt, um die Welt ein Stück besser zu machen, auch wenn es einem alles abverlangt.
Schicksalsschläge führen dazu, dass unsere Herzen nie wieder ganz werden, auch wenn wir die Lebensfreude wiederfinden. Welche Tipps gibst du Menschen weiter, die sich in solchen Situationen befinden?
Jeder Mensch, jede Familie, jedes Umfeld ist anders. Ich sage aber immer, dass man auf das eigene Bauchgefühl und das Bauchgefühl der Kinder hören soll. Auch wenn sie noch sehr jung sind. Gerade in der Zeit des Abschiednehmens. Es muss für die Familie stimmen, für niemand sonst. Manchmal auch entgegen der «üblichen» Vorstellungen. Zwischen «man macht» und «das geht nicht» gibt es eine grosse Grauzone. Diese zu nutzen, ist für den weiteren Weg enorm kostbar.
Hat sich dein Herz verändert?
Ja, mein Herz schlägt anders, seit Till gestorben ist. Das kann man kardiologisch nachweisen. Es ist nicht gefährlich. Ich finde es wichtig, dass man mit sich selbst versöhnlich ist. Das Leben wird nie mehr so sein wie vorher. Es ist eine riesige Leistung, dass das Herz überhaupt weiterschlägt. Man muss mit sich lieb sein, denn man hat den Horror erlebt, den Super-Gau. Man muss Vorstellungen nicht erfüllen, sondern so handeln, wie es für einen passt, weil es eine Höchstleistung ist, dass man es überhaupt schafft. Es gibt viele Paare, die es nicht schaffen. Wenn man beginnt zu werten, wer den Schicksalsschlag wie verarbeitet, ist es oftmals der Anfang vom Ende. Wenn mein Mann eine Stunde Velofahren möchte und ich stattdessen mit einer Freundin Kaffee trinken und reden möchte – nichts ist besser oder schlechter. Alles ist okay.