Ich habe Andreas Iten bei einer Online-Lesung in der Bibliothek der Gemeinde Unterägeri kennengelernt. Im Fokus stand u.a. sein neuer Lyrikband «Barfuss». Iten war Lehrer für Psychologie und Pädagogik. 1974 wurde er Gemeindepräsident von Unterägeri, vier Jahre später Regierungsrat und als Krönung seiner politischen Karriere Zuger Ständerat. Seine über 20 Bücher und die unzähligen Kolumnen sind ein Spiegel seiner Tätigkeit. Das inspirierende Gespräch mit dem Autor dauerte mehrere Stunden und streifte zahlreiche Themen, die hier kompakt wiedergegeben werden.

Wie geht es Ihnen in dieser Zeit?
Die Pandemie ist eine sehr schwierige Zeit und trifft viele Menschen sehr hart. Mir persönlich geht es recht gut. Ich bin geimpft. Ich lade gerne einzelne Persönlichkeiten zu Gesprächen ein, fühle mich also nicht einsam und habe immer Etwas zu tun.
Schreiben Sie an einem neuen Werk?
Ich beschäftige mich gerade mit einem Lehrgedicht über Epikur. Er lebte vor 2300 Jahren in einer ähnlich schwierigen Zeit wie der unsrigen, allerdings in einer völlig unterschiedlichen Situation. Die grossen Griechen hatten ein gewaltiges philosophisches, künstlerisches Werk hinterlassen. Es waren darunter grossartige Tragödien. In der Zeit von Epikur beherrschte der Komödiendichter Aristophanes den Zeitgeist. Ich denke an «Lisistrata» und die «Vögel». Die Philosophie war sehr subjektivistisch geworden.
Wie kommen Sie auf Epikur?
Seine Philosophie passt in unsere Zeit, wo es darum geht, auf die Natur und die Menschen besonders Rücksicht zu nehmen. Er war ein grosser Lehrer, der seine Zeit überlebt hat und uns heute viel bedeuten kann.
Wie hat sich die Weltanschauung in den letzten Jahrzehnten verändert?
Es fand eine unglaubliche Entwicklung statt. Meine Kindheit war noch religiös geprägt. Dann kamen die 70er-Jahre, in denen das geschlossene katholische Milieu aufgebrochen wurde. Daraus ergab sich eine Entwicklung, die nicht mehr so sehr auf das Religiöse ausgerichtet war, sondern vielmehr auf subjektive Befindlichkeiten. Ich selber wurde über die Jahre mehr und mehr erd- und naturverbunden. Die Menschen lösten sich von der Bindung an den Himmel.
Welche Probleme ergaben sich daraus?
In meinen Augen ist das grosse Problem der heutigen Zeit der Subjektivismus. Die Meinungen werden als wahr betrachtet. Doch es ist ja so, dass Wahrheit immer einen Bezug zu einer Tatsache hat. Meinungen, die die Tatsache nicht würdigen, sind rein subjektiv und meistens Fake News. Es liegt im Trend, dass man Meinungen vor Tatsachen stellt. Daraus entsteht ein grosses Misstrauen auch der Wissenschaft gegenüber. Es ist erlaubt, unterschiedliche Ansichten zu einer Sache zu haben. Einen Tisch können Sie nie ganz wahrnehmen, da er aus jedem Winkel anders aussieht, aber Sie können den Tisch nicht verleugnen. Er ist als Gegenstand wahr. Wenn man über den Tisch unterschiedlich urteilt, sind diese Urteile fiktional, das heisst fehlbar.
Was bedeutet dies?
Fiktional heisst, ich sehe dasselbe wie Sie, aber ich bin anderer Meinung. Darüber kann man streiten oder versuchen, die Wahrheit zu finden. Wer zu sehr auf seine Meinung setzt, kann sich täuschen. Selbsttäuschung ist gefährlich. Traurig verläuft ein Leben, wenn man im Alter feststellt, dass man an sich selbst vorbeigelebt hat. Da stellt sich der Schrecken späten Erkennens ein, dass man sich verfehlt hat. Diese Erkenntnis lässt den Menschen nicht mehr los und stört den Seelenfrieden.
Was macht Ihnen in der heutigen Zeit zu schaffen?
Ich glaube, eines der Hauptprobleme ist die Gier nach Geld. Reichtum verändert den Menschen in seinem Charakter. Viel Geld kann ihn überheblich und sehr selbstbewusst machen, sodass er vergisst, ärmeren Menschen gegenüber mit Achtung zu begegnen. Auch Facebook und Twitter verändern den Menschen. Viele suchen mit Followern die Bestätigung ihrer eigenen Meinung. Das führt zu gefährlichen Blasen und zu einem Auseinanderleben. Die Gesellschaft wird zersplittert. Die wissenschaftlichen, politischen und ethischen Autoritäten abgewertet. Jeder fühlt sich mit seinesgleichen selbst als eine Autorität. Autorität entsteht aber durch Sachkenntnis.
Hat der Mensch sich grundlegend verändert?
Nein, das glaube ich nicht. Die Geschichte lehrt, dass es ausser in technischen Fortschritten wenig menschliche Veränderungen gibt. Die alten Griechen haben von der «Wiederkehr des ewig Gleichen» gesprochen. Damit meinten sie wohl, der Mensch verändere sich in seiner Grundausstattung der Triebe, der Sehnsüchte und dem Willen etwas zu gelten, nicht oder kaum. Die Wirklichkeit drehe sich im Kreis.
Sie waren Lehrer, Politiker und sind Schriftsteller. Gibt es prägende Erlebnisse in ihrem Leben?
Ich war Lehrer und wollte unbedingt weiter studieren. Als ich Gemeindepräsident geworden war, hat sich mein Leben verändert, denn es tat sich mir eine neue Welt auf. Der Handlungsspielraum wurde grösser als der in der Schulstube. Die Politik war für mich ein neues Erfahrungsfeld. Ich musste aber aufpassen, dass ich in der Politik nicht restlos aufging, denn ich wusste, dass ein Amt nur für eine gewisse Zeit geliehen ist, dass ich mich als Persönlichkeit daneben entwickeln musste. Tritt man aus einem Amt zurück, fällt der Amtsbonus. Dann erst zeigt sich der wahre Mensch. Das Rollenspiel hat keine Bühne mehr.
Sind Sie heute stets über all die politischen Themen informiert?
Nein, natürlich nicht. Ich bin jetzt 85 Jahre alt. Mich interessieren die kleinen Streitigkeiten in der Politik nicht mehr. Die Jüngeren sind am Zug. Die Erfahrung lehrte mich, dass nie alles glatt verläuft. Mich interessieren heute vielmehr die grossen geopolitischen Änderungen. Etwa das Machtstreben der Chinesen. Die «grossartigen» Lügen der Herren Putin und Erdogan und die Folgen ihrer Politik. Daneben interessieren mich kulturelle Ereignisse, Ausstellungen, Konzerte usw. Ich lese viel, vor allem Literatur und Bücher von Philosophen. Bin auch mit einem Professor der Philosophie befreundet.
Was ist in Ihren Augen die wichtigste Aufgabe der Politik?
Die Herstellung der Gleichgewichtslage ist die grösste und vornehmste Aufgabe der Politik. Die Gleichgewichtslage ist stets labil. Dort, wo sie einseitig kippt, kommt es zu gesellschaftlichen Störungen. Zerfallserscheinungen treten auf. Wenn die Kluft zwischen Arm und Reich zu gross wird, kommt es zu Verwerfungen, wie wir sie überall auf der Welt beobachten. Die Menschen gehen auf die Strassen. Wir Schweizer haben mit Initiativen und Referenden die Möglichkeit gesellschaftliche Entwicklungen etwas zu steuern.
Kommen wir zu Ihnen als Autor. Sie haben über 20 Bücher geschrieben. Was ist Ihr Antrieb?
Ich habe schon im Seminar oft geschrieben. Es muss da ein innerer Antrieb vorhanden sein. Es drängt mich, meine Erfahrungen und Erlebnisse zu beschreiben. Es ist ein tieferes Wollen am Werk, das ich nicht genau beschreiben kann. Es ist wie bei Menschen, die schwierige Berge besteigen. Sie müssen die Wände bezwingen. Beim Schreiben steckt immer ein noch nicht ganz ausgegorener Saft im Autor, der ihn lange beschäftigt, bis er ans Werk geht. So habe mit meinem Roman «Prestobello» ausprobiert, wie ein anderes Leben möglich wäre, das mich in den anstrengenden Jahren der Politik zurückhielt. Es entstand ein erster grosser Entwurf, den ich «Hängemattenwende» nannte. In «Prestobello» schildere ich das Leben eines Mannes, der in der Lebensmitte, sozusagen in der Midelife-Crisis, auch nach einem schweren Schicksalsschlag sein Leben umgestalten möchte. Jedes Thema, das ich einer Erzählung oder Roman behandelt hatte, besass einen inneren «Motor».
Wie viel ist Fiktion, wie viel real Erlebtes?
Ein Werk ist zuerst einmal eine Fiktion, aber es ist immer ein Fingerhut von Erlebtem drin. Wenn es nicht so wäre, würde der Text trocken. Es fehlte der Lebenssaft. Gedichte entstanden oft, wenn mich ein Erlebnis beschäftigte und nach einem Ausdruck verlangte. Darum sind meine Gedichte nicht Gedankenlyrik, sondern Erlebnislyrik.
Wie entstehen gute Geschichten?
Gute Geschichten drängen sich auf oder sie sind nicht. Wenn man nur schreiben würde, um zu schreiben, würde nicht viel Lesenswertes entstehen. Es muss Etwas da sein, das nach Ausdruck verlangt. Schon viele Menschen haben mir gesagt, ihr Leben würde ein Buch füllen. «Ja», sagte ich ihnen jeweils, «dann schreibe darüber.» Die Antwort war stets einfach: «Das kann ich leider nicht.» Schreiben gehört sicher zu den schwierigen Künsten und ohne Übung gelingt sie nicht. Es handelt sich um eine hartnäckig zu verfolgende Arbeit.
Zum Schluss möchte ich Sie fragen, was sie der jungen Generation weitergeben möchten?
Keine leichte Frage. In der schwerelosen Zeit der Jugend vergisst man gern, dass man älter wird. Es gibt Dinge, die man später kaum mehr nachholen kann. Das sind vor allem Sprachen, die man lernen müsste, in dem man in verschiedene Sprachgebiete geht, dort arbeitet oder studiert. Wenn man verschiedene Sprachen beherrscht, – gleich in welchem Beruf – stehen einem viele Türen offen. Ansonsten sage ich: Prüfe deine Talente und Begabungen und verschwende sie nicht. Mach Etwas aus dem, was du kannst. Vergeude deine Zeit nicht. Was man vergeudet hat, wird im Alter zum Konjunktiv: Ich hätte sollen ... Wäre ich nach Paris gegangen … Ohne Hartnäckigkeit und Disziplin hätte ich kein Einziges meiner Bücher geschrieben.
Gibt es Werte, die Sie vermitteln möchten?
Gerne würde ich Jugendlichen sagen, sie sollen daran glauben, dass die Welt besser werden kann. Werte verändern sich. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stets weiterentwickelt, wenigstens in den freien demokratischen Ländern. Politik ist u.a. auch die stete Bemühung um einen moralischen Fortschritt. Die Gerichte urteilen viele Fälle unter neuen gesellschaftlichen Gesichtspunkten, so etwa beim Grundsatz der Gleichberechtigung der Frau. Ohne den Glauben an die gleichen Rechte zwischen Mann und Frau hätten wir nicht einmal das Frauenstimmrecht. Es gibt auch Werte, die immer Gültigkeit haben. Du sollst nicht töten. Du sollst die Würde des Menschen nicht verletzen. Ein Schlüssel ist die Selbstachtung. Wer sich selbst nicht achtet, achtet auch den anderen nicht. Das Fundament einer Werteethik besteht nicht zuletzt auch darin, dass die Gleichwertigkeit des Anderen anerkannt wird.
Nun noch die allerletzte Frage. Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein. Ich unterscheide zwischen Sterben und Tod. Vor einem langen schmerzhaften Sterben würde ich mich auch in einer Zeit der Palliativmedizin fürchten. Vor dem Tod selber nicht. Von der Erde bist du genommen – zur Erde kehrst du zurück, betet der Priester am Grab. Das Zurückgehen in die Erde geschieht nach einem natürlichen, unaufhaltsamem Prozess. Auf den Tod sollte man sich schon früh vorbereiten. Wer den Tod denkt, schätzt das Leben. Wer ihn vergisst, vergisst auch das Leben. Das ist die paradoxe Situation des Menschen. Tod und Leben scheinen sich auszuschliessen. In Wirklichkeit sind sie ineinander verwickelt.